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MCS - Multiple Chemikalien - Sensitivität

MCS - Multiple Chemikalien - Sensitivität

MCS - "Multiple Chemikalien-Sensitivität"
Frühwarnsystem Mensch
"Die Justiz hat versagt" Interview mit Umweltrechtler Profeßsor Erich Schöndorf
Schmutz als Schutz Überlegungen zur Allergie-Auslösung Literaturhinweise
Erste Beweise für Hirnschäden  Interview mit Profeßsor Gunnar Heuser Schadstoff - Steckbriefe
Die nicht eingebildete Kranke Die Geschichte der Anneliese Berthold Selbsthilfegruppen / Kliniken
Diese Beiträge stammen aus dem GREENPEACE-Magazin, 6/98, Seiten 16 - 27 und werden mit freundlicher Genehmigung des Verlages und der Verfaßser hier verwendet.

Ein Report von Kirsten Brode und Andreas Fechner (Fotos), veröffentlicht im Greenpeace-Magazin 6/98, Seite 16 ff.

Schon mehr als 10.000 Deutsche leiden an MCS - der sogenannten "Multiplen Chemikalien-Sensitivität", die ihre Opfer häufig in eine fast totale Isolation treibt.
Und die Zahl der Menschen, denen die allgegenwärtige Chemisierung unserer Umwelt gesundheitlich schwer zu schaffen macht, geht schon in die Millionen.

Die Chemie, die nicht stimmt
Doch bislang verdrängen Politik und Industrie ein Problem, das uns alle treffen könnte.


 

Frühwarnsystem Mensch
Schon Spuren von Chemikalien lösen bei "Chemisch Verletzten" schwerste Reaktionen aus. Doch die Schulmedizin bestreitet die Existenz von MCS.

Als Marion Bönning (Name geändert) das Rasierwaßser des Mannes neben ihr in die Nase sticht, steigt Angst in ihr auf. Der 33jährigen, der Chemikalien Körper und Seele verletzt haben, raubt bereits ein Hauch von Parfüm oder eine Spur Plastikdunst den Atem, läßt den Kreislauf kollabieren und die Sinne schwinden. Trotzdem drängt die Ethnologin sich nun mit 300 anderen im überfüllten Fraktionsraum der SPD in Bonn. Denn das Experten-Hearing "Umwelt und Gesundheit" verspricht verhöhnten und verletzten Menschen wie ihr eine seltene Erfahrung: Man nimmt sie ernst und hört ihnen zu, wenn sie ihre Geschichte erzählen - von Pestiziden und Prozeßsen, von Quecksilber und Quacksalbern, von Lösungsmitteln und unsäglichem Leid.

Marion Bönning ist schon lange nicht mehr soweit gereist. Entschloßsen preßt sie die Atemmaske auf ihr Gesicht. Als sie die Luft im Raum und den Duft der anderen nicht mehr erträgt, zieht sich die zierliche brünette Frau in den Nebenraum zurück. über Lautsprecher schildert sie den anderen ihr Schicksal, spricht von Symptomen wie extremer Müdigkeit und Muskelschwäche, Hautaußschlägen, Schwellungen und Schwindel, Gedächtnis- und Konzentrationßstörungen, Angst und Depreßsion.

"Chemisch Verletzte" nennen sich Bönning und ihre Leidensgenoßsen. Das ebenso junge wie umstrittene Krankheitsbild, das ähnlich wie Allergien zuerst nur wenige traf, breitet sich jetzt explosionsartig aus. Offenbar - so vermuten Experten - ist bei vielen der Punkt erreicht, an dem die körpereigene Abwehr mit dem Ansturm von Schadstoffen nicht mehr fertig wird, denen wir im Alltag ausgesetzt sind. Einem berstenden Staudamm gleich, bricht das menschliche Immunsystem zusammen.

So gesehen reagieren die Chemisch Verletzten als Frühwarnsystem gegen die 65.000 Chemikalien im Handel. 15.000 davon gelten als gesundheitsgefährdend, nur 2000 sind näher erforscht Und Grenzwerte gelten gerade mal für 400 Stoffe.

Hilflos reagiert die Schulmedizin, die die Geplagten als "Simulanten" verhöhnt. Die Textilarbeiterin Anneliese Berthold etwa hat eine wahre Odyßsee durch Arztpraxen hinter sich. Da weder Hausarzt noch Betriebsarzt erhöhte Giftwerte in ihrem Körper fanden, galt sie als "arbeitßscheu". Die 33jährige dagegen ist wie ihre Leidensgenoßsen und eine wachsende Zahl spezialisierter ärzte überzeugt, daß bereits winzige Spuren einzelner Chemikalien krank machen können.

Genau das bestreiten viele Toxikologen und Arbeitsmediziner, die in ihrer Berufspraxis mit weit höheren Dosen hantieren. Sie attestieren zwar Dioxin-Opfern aus Seveso oder Bhopal, chemisch verletzt zu sein, doch schon die Frage, ob Benzol und Dieselruß Krebs auslösen können, gilt als extrem umstritten. Selbst schwerst geschädigte Holzschutzmittel-Opfer, die 1993 vor Gericht gingen, erhielten weder Recht noch Entschädigung (siehe Interview S.24).

Daß gesichertes Wißsen darüber fehlt, wie verdächtige Chemikalien im Körper exakt wirken, bleibt die Achillesferse der Opfer. Hypothesen gibt es zwar zuhauf. Ob aber nun die Entgiftung des Körpers versagt oder das Immunsystem defekt ist, ob eine unerkannte Infektion ausgelöst wurde oder eine neurotoxische Vergiftung vorliegt - oder alles zusammen -, ist ebenso wenig bekannt wie die Langzeiteffekte chemischer Substanzen, ihre Kombinationswirkungen und die Reaktionsmechanismen besonders sensibler Menschen auf chemische Attacken.

Ein Skandal, wie der Kieler Toxikologe Carsten Alsen-Hinrichs findet: "Die Erforschung solcher Fragen wird vom etablierten Wißsenschaftsbetrieb weitgehend abgelehnt und blockiert." Welcher Forscher will schon auf Drittmittel der verärgerten Industrie verzichten? Oder gar als "Umweltapokalyptiker" geschmäht werden, der "ökochonder" unterstütze, wie der ehemalige Hamburger Umweltsenator und jetzige Shell-Vorstand Fritz Vahrenholt 1995 im Nachrichtenmagazin "Der Spiegel" räsonierte?

Ob diese Ignoranz noch lange hilft, ist fraglich. Umweltmediziner schätzen, daß bereits ein bis zwei Prozent der Deutschen mehr oder weniger offensichtlich an einer Chemikalienunverträglichkeit leiden - 800.000 bis 1,6 Millionen Menschen, was der Bevölkerung von Düßseldorf oder Hamburg entspricht.

Hilfesuchend irren die Leidenden durch Arztpraxen, Analyselabors und Krankenhäuser. Die Nachfrage dieser oft verzweifelten Klientel hat inzwischen ein spezielles Angebot geschaffen: Rund 70 umweltmedizinische Beratungßstellen in Städten und Gemeinden, Unis und Großforschungseinrichtungen bieten qualifizierten Rat. Zudem haben sich bis Ende 1997 mehr als 2300 ärzte zum "Umweltmediziner" weiterbilden laßsen. Vertreter dieser jungen Fachrichtung versprechen therapeutische und menschliche Schwächen einer Schulmedizin auszubügeln, die Patienten nicht ernst nimmt und als psychisch krank diffamiert.

Anhängern der Theorie einer Maßsenhysterie liefert eine Studie der Universität Erlangen-Nürnberg paßsende Argumente. Die meisten Patienten in der dortigen Umweltambulanz führten ihre Beschwerden auf Chemikalien zurück. Doch die Befunde von Blut, Urin und Speichel blieben "unauffällig". Quecksilber, Polychlorierte Biphenyle (siehe Stoff-Steckbriefe ) oder Lindan ließen sich nicht vermehrt nachweisen. Bei der psychologischen Untersuchung wurden die Erlanger dagegen fündig: Die Mehrheit der knapp 100 durchgecheckten Patienten litt unter Neurosen, psychosomatischen Störungen oder Depreßsionen.

Für Eberhardt Schwarz, der Schadstoffopfer in seiner Klinik im schleswig-holsteinischen Bredstedt therapiert, ist das kein Wunder: "Von Hausärzten, von Freunden und sogar der Familie ständig abgewiesen zu werden, macht unglücklich." Für ihn sind psychiatrische Störungen meist das Resultat der Krankheit, nicht deren Ursache. Als Psychiater und Umweltmediziner setzt er auf eine Leib und Seele umfaßsende Therapie (siehe hier).

Seit manche Patienten für die Forschung buchstäblich den Kopf hinhalten, gelingt neuerdings der Beweis, daß Chemisch Verletzte körperlich Schäden davontragen: Der amerikanische Toxikologe Gunnar Heuser weist nun im Hirn Chemisch Verletzter Stoffwechselstörungen nach, die zum Verlust von Sprache und Erinnerungsvermögen führen können (siehe Interview ). Auf farbigen und dreidimensionalen SPECT-Bildern sind regelrechte "schwarze Löcher" - inaktive Hirnbereiche - zu erkennen. Dort sind die Zellen nur mangelhaft mit Blut und Energie versorgt, so daß etwa Gesehenes und Gehörtes nicht mehr richtig mit Erinnerungen verknüpft wird. Die schwarzen Löcher fand Heuser nur bei Chemikalienopfern, nicht aber bei psychisch Kranken, die keinen Chemikalien ausgesetzt waren.

Der erschreckende Befund hat bei den Patienten oft einen paradoxen Effekt: "So irrwitzig es klingt", berichtet Heuser; "die Kranken sind heilfroh über die Diagnose. Endlich haben sie den bildlichen Beweis, daß sie ihr Leiden nicht vortäuschen."

Amerikanische Mediziner waren es auch, die vor einigen Jahren die Diagnose "Multiple Chemical Sensitivity" (MCS; vielfache Chemikalienunverträglichkeit) prägten, um der schwersten Form der Umweltkrankheit einen Namen zu geben. Sie wird meist von einem Stoff, zum Beispiel Formaldehyd, ausgelöst und weitet sich auf immer mehr Chemikalien aus - etwa Parfüms oder Plastikausdünstungen. Selbst Nahrungsmittel, die Farb- und Konservierungßstoffe enthalten, geraten auf den Index.

Eine Diagnose von MCS ist aus mehreren Gründen schwierig:

• Die Auslöser sind sehr verschieden, sowohl in der Dosierung als auch in der Art der Stoffe, auf die die Bevölkerungsmehrheit nicht oder kaum reagiert.

• Die Symptome reichen von Unwohlsein bis zu lebensbedrohlichen Zuständen.

• Kein einziger verbreiteter Test physiologischer Funktionen kann die Symptome erklären.

MCS treibt seine Opfer regelrecht in die Isolation. Der 61jährige Alfred Walthers (Name geändert), Ingenieur aus Hamburg, leidet nach Löse- und Holzschutzmittelbelastung seit acht Jahren unter MCS. Er bewohnt eine schadstoffarme Wohnung mit Möbeln aus Glas, Stahl und unbehandeltem Schwarzerlenholz aus dem nahen Sachsenwald. Vom Bettzeug bis zu Büchern wird alles "ausgelüftet", bevor es Einlaß findet. Zeitungen liest er unter einer Glasplatte. Verläßt er das Haus, etwa um einzukaufen oder bahnzufahren, wird er schnell zum Außenseiter. Im Kaufhaus läßt der MCS-Kranke sich die Ware an die Tür bringen, im Zug besteht er auch bei Regen und Kälte darauf, die Fenster aufzureißen. Streit mit Verkäufern und Schaffnern ist vorprogrammiert.

Wie außsichtslos die Suche nach einer schadstofffreien Umgebung sein kann, zeigt der Tod einer Hamburger Leidensgenoßsin von Walthers. Die 46jährige Psychologin nahm sich im Juli diesen Jahres das Leben, nachdem sie zuletzt wochenlang in einem Zelt gehaust hatte.

Rund 10.000 Menschen sind hierzulande als MCS-krank registriert. "Die Dunkelziffer ist allerdings erheblich höher", vermutet Werner Maschewsky, Profeßsor für Sozialmedizin an der Fachhochschule Hamburg. Die Patienten stranden bereits beim Neurologen mit Kopfschmerzen oder beim Internisten wegen Magen-Darm-Beschwerden, statt mit der Diagnose MCS zum Umweltmediziner überwiesen zu werden.

Der Psychologe initiierte ein MCS-Forschungsprojekt, deßsen Ergebnißse bestimmte Risikoberufe für MCS nahelegen. "MCS ist ein Problem von Laboranten, Raumaußstattern, Fußbodenlegern, Malern und Lackierern", bilanziert Maschewsky. Auch Chemiker und Ingenieure verschone die Krankheit nicht - oft Menschen, die ihre Schwäche selbst lange als Formtief abtun.

In den USA ist MCS - im Unterschied zu Deutschland - für ärzte, staatliche Organisationen, Justiz und Versicherungen bereits eine anerkannte Diagnose. Ein Erfolg der Kranken selbst, die ihre Kräfte in Selbsthilfegruppen bündeln und so Einfluß und Stimme gewonnen haben. Die Aktivisten sind regional und national organisiert und informieren sich in mehr als 20 MCS-Infoblättern. Die total isoliert lebende Cindy Duehring erhielt für ihre aufklärerische Arbeit zu MCS vergangenes Jahr den "Alternativen Nobelpreis". Die US-Justiz hat schon 1979 die ersten MCS-Fälle als arbeitsbedingt anerkannt und entschädigt. MCS-Kranke gelten als "behindert", was zwar fragwürdig ist, ihnen aber schadstoffarme Arbeitsplätze und Unterkünfte sichert. In Deutschland dauerte allein die Antwort auf eine parlamentarische Anfrage zum Thema ein Jahr - üblich sind drei Monate.

Vermutlich wollen die Bonner Ministerialen die Kehrseite der Chemiegesellschaft nicht sehen. Schließlich steht hier nicht nur der Lebenßstil einzelner Menschen auf dem Prüfstand, sondern der von uns allen. Mächtige Intereßsengruppen wie die Chemieindustrie organisieren den Widerstand nach der Devise "Wehret den Anfängen" und schicken - etwa im Holzschutzmittel-Prozeß - reihenweise willfährige Gutachter in die Schlacht, um nicht für Schäden haftbar gemacht zu werden.

Eine umsichtige und vorsorgende Politik könnte dabei immense Summen sparen: Die SPD schätzt den Arbeitsausfall durch umweltbedingte Erkrankungen jährlich auf bis zu 120 Milliarden Mark. Kosten, die der Steuerzahler trägt und nicht der Verursacher. Nicht zuletzt deshalb prescht die SPD nun vor und fordert vollmundig einen "Haftungsfonds für Chemikaliengeschädigte", in den jede Chemiefirma einzahlen soll. Außerdem sollen Familien, die in holzschutzmittelverseuchten Häusern leben, mit baubiologisch unbelasteten Ausweichquartieren versorgt werden. Anderen sollen zinslose Darlehen bei der Sanierung vergifteter Wohnungen helfen. Richard Ratka, Organisator der SPD-Tagung, geht noch weiter: Er fordert eine Radikalreform der Chemieindustrie - auf den Markt darf nur; was zweifelsfrei unschädlich ist. Selbst die Kaßsenärztliche Vereinigung Nordwürttemberg warnte im August vor einer "zunehmenden Belastung der Volksgesundheit durch Chemikalien". Die Wirkungen von weltweit mehr als zehn Millionen chemischen Substanzen zeigten sich nur langsam. ärzteverbände stoßen ins selbe Horn. Die Interdisziplinäre Gesellschaft für Umweltmedizin (IGUMED) fordert seit langem, bei der Zulaßsung chemischer Stoffe strengere Maßstäbe anzulegen.

Den Rückenwind spürten die Chemisch Verletzten auch beim Hearing Ende August in Bonn. Schon bündeln rührige Vertreter der Szene nach dem Vorbild der USA die Kräfte, sammeln sie Fälle und Literatur, um vor Gericht zu ziehen und ihre Anliegen durchzufechten. Am Ende des Tages eint die Runde eine Devise:

Einzeln gehen wir unter. Gemeinsam sind wir stark.

 

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